Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Ernesto de Fiori (1884–1945)
Stehende, um 1920

Eichenholz

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1955 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 725 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Aaufrechtstehender Jungmädchenakt

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unbezeichnet

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 124
Inventar Land Berlin: 124
Weitere Nummern: 19/25

Werkverzeichnis-Nummer
Vierneisel WV 20

Foto: CC BY-NC-SA
Provenienz
bis 1939 Barbara de Fiori, Berlin, spätere Gräfin Alexandra Woronzoff-Daschkoff, Paris Q5 Q6 Q7 Q9
„Professor Strassmann“ Q9
Witwe von „Professor Strassmann“ Q9
bis um 1949 „Herr Stang“, Berlin
um 1949 bis 1955 Olaf Lemke sen., Berlin-Charlottenburg Q9
1955 Propyläen Kunsthandlung , Berlin Q1 Q9
1955 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben bei der Propyläen Kunsthandlung Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
1960 empfing Adolf Jannasch ein Restitutionsgesuch zu Ernesto de Fioris Eichenholzskulptur der „Stehenden“, die er fünf Jahre zuvor für die Galerie des 20. Jahrhunderts in der Berliner Propyläen Kunsthandlung erworben hatte. Die Antragstellerin, Gräfin Woronzoff-Daschkoff aus Paris, hatte die Skulptur bei ihrem Museumsbesuch in der Jebensstraße entdeckt und als ihr Eigentum erkannt, welches sie durch Fotografien der Figur in ihrer Wohnung und glaubhafte Zeugenaussagen belegen konnte.Q9 Wegen vermeintlich zu schlechter Nachweislage wurde 1964 eine Restitution zunächst abgelehnt, doch bot ihr der Senat eine Abfindung in Höhe des Preises von 725 DM an, den Jannasch 1955 für die Skulptur aufgebracht hatte, falls es einen gerichtlichen Beschluss zugunsten der Gräfin geben sollte.Q7 Q9 Ihr Berliner Rechtsanwalt bestand jedoch im Auftrag seiner Mandantin auf Herausgabe der Skulptur. Anfang 1965 wurde die „Stehende“ aus dem behördlichen Entscheid über die Entschädigung für Vermögenswerte als Sonderfall ausgenommen, „so daß ihr Antrag beim Senator für Wissenschaft und Kunst unabhängig von dem bei uns [Entschädigungsamt] gestellten Antrag bleibt“.Q9 Aufgrund dieser Sonderregelung zogen sich die Verhandlungen, obwohl die Deutsche Botschaft Paris wegen des schlechten Gesundheitszustands und der finanziellen Not der Gräfin vordringliche Bearbeitung der Angelegenheit forderte, noch viele Jahre hin. Erst mit Urteil vom 20. Juni 1978 wurde ihr schließlich für die „Stehende“ eine Entschädigung von 66.000 DM zugesprochen.Q9

1962 wurde die Gräfin offiziell als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt und für ihren „Schaden an Freiheit“ mit einer monatlichen Rente von 601 DM bedacht.Q9 Ihre Biografie, die das Entschädigungsamt zu dieser Einstufung veranlasste, ist höchst bemerkenswert: Gräfin Woronzoff-Daschkoff, geboren am 26. Oktober 1911 in Moskau als Tochter eines Textilfabrikanten, erhielt den Namen Alexandra Mirowna/Mironoff und wanderte 1920 mit ihrer Familie illegal über Warschau und Paris nach Deutschland ein. In Berlin heiratete sie 1927 den Bildhauer Ernesto de Fiori, von dem sie als seine dritte und letzte Ehefrau 1932 wieder geschieden wurde. Während ihrer Ehe mit dem Künstler trug sie den Namen Barbara de Fiori, war jedoch als Schauspielerin und Operettensängerin eher unter ihrem Künstlernamen Barbara Diu bekannt. Nach der Scheidung nahm sie den Nachnamen ihres neuen Verlobten Mitja Nikisch an. Der Pianist verstarb kurz vor der geplanten Hochzeit am 4. August 1936 in Venedig. Den Namen Barbara Nikisch jedoch behielt sie einstweilen bei. Ab 1938/39 war sie mit dem jüdischen Sänger Kostja Konstantinow alias Konstantin Schreiber liiert, den sie aufgrund der „Arier“-Gesetzgebung nicht heiraten durfte. Auch nach Kriegsende kam es nicht mehr zur Vermählung, da Konstantinow 1947 bei einem Flugzeugabsturz in den USA ums Leben kam. Ihre zweite Ehe ging sie schließlich 1955 mit dem Grafen Woronzoff-Daschkoff in Paris ein; sie verstarb dort am 9. März 1991.

Schon vor ihrer Beziehung mit Konstantinow war sie auf Anordnung des Propagandaministeriums boykottiert und diffamiert worden. „In der Folgezeit lehnte ich alle Aufforderungen ab, in die Reichskulturkammer einzutreten“, erklärte sie dem Entschädigungsamt. „Ich erkannte sehr bald, dass wegen meiner politischen und künstlerischen Einstellung ein weiteres Verbleiben in Deutschland, sowie eine weitere Ausübung meiner beruflichen Tätigkeit dort unmöglich geworden war.“Q9 Als sich die Lage auch wegen ihrer Beziehung mit einem Juden zuspitzte, emigrierte sie 1939, von Freunden gewarnt, gemeinsam mit Konstantinow nach Paris, wo sie sich vorübergehend mit kleinen Engagements als Sängerin über Wasser halten konnte. Als Reichsdeutsche wurde sie jedoch im April 1940 verhaftet und im Lager Camp de Gurs interniert. Als die deutschen Truppen in Frankreich einzogen, wurde sie aus dem Lager befreit und krank nach Paris zurückgebracht. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie keine weiteren Engagements mehr annehmen, schrieb jedoch noch zwei Theaterstücke, die 1941 und 1942 in Paris uraufgeführt wurden.

Da sie in jenen Jahren Konstantinow in ihrer Pariser Wohnung versteckte, geriet sie erneut ins Kreuzfeuer. Der Lebensgefährte erhielt jedoch 1942 von einem befreundeten Bezirksbürgermeister falsche Papiere, um aus Paris aufs Land fliehen zu können. Barbara Nikisch folgte ihm nach einem Verhör im Hauptquartier der Pariser Gestapo Anfang April 1943 nach Sully-sur-Loire. Dort lebte das Paar bis zur Befreiung Ende August 1944 unter ärmlichsten Bedingungen auf einem Bauernhof.Q9

Als die Gräfin 1939 Berlin fluchtartig verlassen hatte, musste sie ihr gesamtes Hab und Gut in der Wohnung Landgrafenstraße 17 zurücklassen. Kurz darauf wurde die Wohnung von Unbekannten geplündert. Eine Zeugin erinnerte sich später: „Ich wollte meine Buecher, die ich seinerzeit der Frau de Fiori geliehen hatte, abholen. Wir hatten keine Schluessel zu ihrer Wohnung und fanden niemanden, der uns in die Wohnung hineinlassen konnte. Es war aber eine Parterrewohnung mit einem kleinen Vorgarten. So konnten wir von aussen durch die Fenster in die Wohnung hineinsehen und dabei stellten wir fest, dass die Wohnung der Frau de Fiori ausgeräumt war.“Q9 Zu den Verlusten zählten historische Möbel, wertvoller Schmuck, Silber, Porzellan, historische Musikinstrumente und Werke der bildenden Kunst, die die Gräfin 1954 wie folgt benannte: „[Im Speisezimmer] befanden sich […] auch Gravüren und Zeichnungen von französischen Malern, z. B. ein Degas, 1 Ingres, alles andere waren hauptsächlich Fiori, Hofer und andere deutsche Maler. Ich hatte auch einige Kolbe und mehrere Fiori-Skulpturen, wie z. B. die Engländerin, sein Selbstbildniss, e.t.c.“.Q9 Auch die „Stehende“ wurde im Rahmen dieser Wohnungsplünderung geraubt und verschwand bis zur Erwerbung durch Jannasch 1955 von der Bildfläche.

Im Zuge der Nachforschungen zum Entschädigungsverfahren teilte die Propyläen Kunsthandlung mit, „dass ein als Zeuge benannter Herr Olaf Lemke, wohnhaft gewesen im Frühjahr 1961 in Berlin-Charlottenburg […], diese Plastik von der Witwe des Eigentümers Professor Strassmann unmittelbar nach oder vor Ende des zweiten Weltkrieges erworben habe.“Q9

Olaf Lemke (geb. 1897) war ebenfalls Bildhauer und schuf – als seine bekanntesten Arbeiten – während der NS-Zeit je eine Büste von Otto Lilienthal und Adolf Hitler. Weitere Auftragswerke fertigte er im Auftrag des Preußischen Ministerpräsidenten, der Reichskanzlei sowie der Reichsfilmkammer.Q10 Q11 Seit 1936, nachdem ihm sein Berliner Atelier wegen Verkaufs des Grundstücks an das Reichskriegsministerium gekündigt worden war, arbeitete er in Buckow in der Märkischen Schweiz, wohnte jedoch von 1941 bis zu einem Totalbombenschaden 1944 in Berlin-Charlottenburg.Q11 Q12 Q13 Lemke kannte de Fiori persönlich, da die beiden Künstler zeitweilig am Lützowufer nahe dem Grandhotel Esplanade Ateliernachbarn gewesen waren. Lemke, der sich in der Nachkriegszeit nur noch als Kunsthändler betätigte, erkannte die „Stehende“, als er sie um 1949 erwarb, sofort als Werk seines Bildhauerkollegen. In der Erinnerung seines Sohnes allerdings erhielt er die Figur – abweichend von der Auskunft der Propyläen Kunsthandlung – von einem „Herrn Stang“ aus der Nachbarschaft (freundliche Mitteilung von Olaf Lemke jun., Antike Rahmen & Antiquitäten Berlin, 2.5.2012).

Auf welche Weise „Herr Stang“ und der von der Kunsthandlung als Vorbesitzer benannte „Professor Strassmann“ nach 1939 in die Verbleibgeschichte der Skulptur involviert waren, ist nicht rekonstruierbar. Die Identität des „Herrn Stang“ entzog sich aufgrund des Mangels an weiteren Forschungsansätzen gänzlich der Recherche; bei „Professor Strassmann“ kommen verschiedene Professoren dieses Nachnamens infrage, doch sind nur im Falle eines Kandidaten Informationen zu einer Kunstsammlung überliefert: Richter Ernst Karl Otto Strassmann (1897–1958) war als Kind von einer jüdischen Familie adoptiert worden, doch konnte er diesen familiären Hintergrund während des NS-Regimes verschleiern. In den 1930er-Jahren trug er eine ansehnliche Kunstsammlung deutsch-französischen Zuschnitts zusammen, in der sich unter anderem Werke von Arthur Degner, Max Kaus, Ernst Ludwig Kirchner, Max Liebermann, Édouard Manet, Adolph Menzel, Emil Nolde, Max Pechstein, Auguste Renoir und Lesser Ury befanden. Unter desgleichen ungeklärten Umständen wie im Falle der „Stehenden“ gelangte ein Gemälde von Lucien Adrion aus dem Eigentum des Ismael Littmann in die Kollektion des Juristen und aktiven Widerstandskämpfers, das 2006 von der Ernst-Strassmann-Stiftung an die Erben nach Littmann restituiert wurde.L8 L9 Eine Ungereimtheit allerdings bleibt bei dieser spekulativen Zuordnung der „Stehenden“ zur Sammlung Ernst Strassmann die Tatsache, dass die Propyläen Kunsthandlung die Verkäuferin an Lemke als „Witwe des Eigentümers Professor Strassmann“ benannte, der aber selbst zum Zeitpunkt von Jannaschs Kauf noch am Leben war.

Recherche: HS | Text: HS

unbezeichnet

Rückansicht

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 18.2.1955

Q2 Liste der Kunstwerke, die am 6.6.1968 aus dem Depot der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergeben wurden, o. D., Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Bl. 4

Q3 Protokoll der Ankaufskommission der Galerie des 20. Jahrhunderts, 18.2.1955, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0200-02-089.1 f.

Q4 Angebot der Propyläen Kunsthandlung, 13.12.1954, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0800-01-002.4

Q5 Brief Rechtanwalt Pürschel an den Senat, 12.12.1960, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0800-01-002.11.2

Q6 Stellungnahme Adolf Jannasch, 21.12.1960, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0800-01-002.11.3

Q7 Brief Senator Werner Stein an Rechtsanwalt Pürschel, 7.9.1964, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 04-0800-01-002.3.1 bis -002.3.3

Q8 Liste der in der Wohnung der Antragstellerin im Stich gelassenen Gegenstände, Auszug aus der Entschädigungsakte von Alexandra Woronzoff-Daschkopf [sic], Unterlagen Vierneisel, Archiv Georg-Kolbe-Museum, Berlin

Q9 Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin, Entschädigungsantrag Alexandra Woronzoff-Daschkoff, Reg. 276.422

Q10 Briefabschrift Preußischer Ministerpräsident an die Landespolizeidirektion Brandenburg, 27.1.1935, Landesarchiv Berlin, A Rep. 243-04, Nr. 5182, Personenakte Olaf Lemke

Q11 Brief Reichsfilmkammer an Reichskulturwalter Hans Hinkel, 25.3.1937, Landesarchiv Berlin, A Rep. 243-04, Nr. 5182, Personenakte Olaf Lemke

Q12 Brief Reichskammer der Bildenden Künste an das Polizeiamt, Aktennotiz des Polizeihauptwachtmeisters, 25.8.1937, Landesarchiv Berlin, A Rep. 243-04, Nr. 5182, Personenakte Olaf Lemke

Q13 Reichskammer der Bildenden Künste, Mitgliedsausweis Olaf Lemke, 21.3.1941, Landesarchiv Berlin, A Rep. 243-04, Nr. 5182, Personenakte RBK Olaf Lemke

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1958, Nr. 202

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 223

L3 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 265

L4 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 347

L5 Beatrice Vierneisel, Ernesto de Fiori. Das plastische Werk. 1911–1936, Berlin 1992, Nr. 20

L6 Wilken von Alten, Ernesto de Fiori, in: Gustav Eugen Diehl (Hrsg.), Ernesto de Fiori (Veröffentlichungen des Kunstarchivs, 11), Berlin 1926, S. 5–10, hier S. 6

L7 Wolfgang Paul Strassmann, Die Strassmanns. Schicksale einer deutsch-jüdischen Familie über zwei Jahrhunderte, Frankfurt am Main und New York 2006, S. 241

L8 Gunnar Schnabel und Monika Tatzkow, Nazi Looted Art. Handbuch Kunstrestitution weltweit, Berlin 2007, S. 450 f. (Fall 93: Ismar Littmann-Erben vs. Ernst-Strassmann-Stiftung)

L9 Horst R. Sassin, Liberale im Widerstand. Die Robinsohn-Strassmann-Gruppe 1934–1942, Hamburg 1993