Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Karl Hofer (1878–1955)
Stehender Jüngling, 1907

Öl auf Leinwand
122 x 78 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1980 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 18.000 DM

Weitere Werkdaten

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten links: K H / 1907

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 1132
Inventar Land Berlin: 1132

Werkverzeichnis-Nummer
Wohlert/Eisenbeis WV 104

Foto: Anders, Jörg P. / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
1903 (im unfertigen Zustand) Theodor Reinhart, zur Ansicht L2
Januar 1912 bis 1919 Theodor Reinhart, erworben vom Künstler im Tausch L2
ab 1919 Erben Theodor Reinharts
bis 1965 Sammlung Oskar Reinhart, Winterthur L1 L5
1979 bis 1980 Galerie Pels-Leusden, Berlin L3
1980 erworben aus Mitteln des Landes Berlin (Deutsche Klassenlotterie) von der Galerie Pels-Leusden für die Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Q1
Zwischen Karl Hofer und der in Winterthur ansässigen Familie Reinhart bestanden enge Verbindungen. Der Schweizer Kaufmann Theodor Reinhart (1849–1919), der den Familienbetrieb der Gebrüder Volkart zu einem lukrativen internationalen Handelsunternehmen ausgebaut hatte, war ein Kunstkenner und Mäzen junger Künstler aus Deutschland und der Schweiz. Für Hofer, den er 1901 über den Karlsruher Freund Georg Meurer kennengelernt hatte, stellte Reinhart zwischen 1902 und 1919 den wichtigsten Förderer und einen „väterlichen Freund“ dar (S. 125).L8 Im Dezember 1903 schlossen beide einen „Kontrakt“, der festlegte, dass Reinhart den Künstler für fünf Jahre finanzieren und im Gegenzug jährlich alle von Hofer geschaffenen Ölbilder zur Ansicht geschickt bekommen sollte, von denen er jeweils drei (später vier) behalten dürfe (S. 73).L2 Im Jahr 1912 besaß Reinhart bereits fast drei Dutzend Gemälde Hofers, die er in seinen Wohnräumen präsentierte: „Im ganzen hängen im Rychenberg 31 und auf der Fluh 34 Bilder von Ihnen“ (S. 318).L2 Im Jahr 1917 war die Anzahl von Hofer-Werken in seinem Besitz auf 64 angestiegen (S. 39).L6.

„Stehender Jüngling“ war eines der ersten Bilder, die Hofer nach Abschluss des Vertrags mit Theodor Reinhart an den Sammler schickte, im noch unfertigen Zustand. Am 19. Mai 1903 schrieb er, dass er sich entschlossen habe, „Ihnen auch eine Kiste, K13, zu senden. Dieselbe enthält den unfertigen stehenden Jüngling“.L2 Auch eine 1903 zusammengestellte Liste von 15 bei Reinhart befindlichen Bildern nennt das Werk: „Stehender Jüngling (unfertig) Mk. 500,-“ (S. 46).L2 In der Folge scheint das Gemälde wieder an den Künstler zurückgegangen zu sein (er vollendete es 1907), denn erst 1912 erwarb Reinhart es tatsächlich, indem er es gegen eines tauschte, das ihm bereits gehörte. Im Januar 1912 schickte Hofer es ihm zu,L1 und im Juni bestätigte sein Mäzen: „Betreffs Tausch haben wir im Herbst definitiv nur geordnet: ‚David‘ und ‚Stehender Jüngling‘ gegen ‚Paradiesische Gefilde‘. Dieser Tausch ist in natura vollzogen“ (S. 313).L2 Die Rückseite des Gemäldes trägt einen Aufkleber, auf dem blass das Wort „KOLLEKTIV“ zu erkennen ist. Dies ist die Bezeichnung, die Theodor Reinhart und Hofer für das Konvolut der jährlich von Hofer zur Ansicht gesandten Bilder verwendeten.L2

Von Theodor Reinharts fünf Kindern sammelten Georg (1877–1955) und Oskar (1885–1965), mit denen Hofer 1910 und 1911 Reisen unternahm, ebenfalls Kunst. Nach Theodor Reinharts Tod 1919 blieb vor allem Oskar Reinhart ein wichtiger Ansprechpartner für Hofer, da er die an die Kinder vererbte Kunstsammlung des Vaters fortführte und ab den 1920er-Jahren stark ausbaute. Schon während des Ersten Weltkriegs trafen sich exilierte und in der Schweiz ansässige Künstler regelmäßig in der Zürcher Wohnung von Oskar Reinhart und auf dem reinhartschen Landsitz Am Römerholz. Neben Chichio Haller, Ernesto de Fiori und anderen gehörte auch Hofer weiterhin zu diesem Kreis. Neben der Winterthurer Villa Am Römerholz errichtete Oskar Reinhart ein Galeriegebäude für seine Kunstsammlung und schenkte der Stadt Winterthur rund 600 Werke deutscher, schweizerischer und österreichischer Künstler des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts, die seit 1951 im Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten beheimatet sind. Hofers „Stehender Jüngling“ blieb bis zu Oskar Reinharts Tod in seinem Besitz.

Recherche: CT | Text: CT

Außenrahmen oben links: runder Zollstempel, Schweizer Zollamt Konstanz (mit Wappen)
Keilrahmen oben links, Aufkleber: No. 1[unleserlich]3/2 [zum Teil überklebt]
Keilrahmen oben links, handschriftlich, rot: 7
Keilrahmen oben links, runder Zollstempel, Schweizer Zollamt Konstanz, überklebt mit Aufkleber mit Nummer: 32
Keilrahmen oben links Mitte, Aufkleber mit Stempel-Beschriftung: KOLLEKTIV [verblasst]
Keilrahmen oben Mitte, Aufkleber: Besitzer Dr. Oskar Reinhart Winterthur Am Römerholz
Keilrahmen oben rechts, Aufkleber mit Nummer: 333
Keilrahmen, Quersteg Mitte, auf briefmarkenähnlichem Zolletikett runder Zollstempel: Zoll II-45
Keilrahmen Quersteg, handschriftlich, blau: 5 Bilder St K M [?] 498
Keilrahmen links unten, Aufkleber mit roter Nummer: 48[…] [abgerissen]
Keilrahmen links Mitte, Aufkleber mit Stempelnummer: 0014
diverse, teils unleserliche handschriftliche Bezeichnungen, darunter: 869 [blau]; 13993 [blau]; M. V. 8274; Hofer [Graphit]

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 14.4.1980

Q2 Aufstellung der Erwerbungen 1977–1981, 9.2.1982, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q3 Protokoll der Ankaufskommission, 3.4.1980, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Beratende Ankaufskommission, Protokolle, Lotto

Q4 Korrespondenz zwischen der Galerie Pels-Leusden und Dieter Honisch [inklusive Rechnung vom 1.2.1980], 1979/80, Bildakte Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie

L1 Karl Wohlert und Markus Eisenbeis, Karl Hofer. Werkverzeichnis der Gemälde, Bonn 2008, Nr. 104

L2 Ursula und Günter Feist, Karl Hofer – Theodor Reinhart. Maler und Mäzen. Ein Briefwechsel in Auswahl, Berlin 1989, S. 46, 313

L3 Karl Hofer, Ausst.-Kat. Galerie Pels-Leusden Berlin 1979, S. 4, Nr. 1

L4 Aktuelle Ausstellungen in West-Berlin, in: Weltkunst, Jg. 49, Nr. 10, 15.5.1979, S. 1274 (ohne Besitzerangaben)

L5 H. Brühlmann, Karl Hofer u. a., Ausst.-Kat. Kunsthalle Bern 1946, S. 9, Nr. 64 („Stehender Jüngling 1907, Depositum Dr. Th. Reinhart, Kunstmuseum Winterthur“)

L6 Dieter Schwarz (Hrsg.), Die Sammlung Georg Reinhart, Winterthur 1998

L7 www.roemerholz.ch, letzter Zugang 22.1.2016

L8 Karl Hofer, Erinnerungen eines Malers, Berlin 1953

L9 Mariantonia Reinhard-Felice (Hrsg.), Sammlung Oskar Reinhart „Am Römerholz“ Winterthur. Gesamtkatalog, Basel 2003