Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


zurück

Ludwig Meidner (1884–1966)
Selbstbildnis, 1915

Öl auf Leinwand
74,5 x 53,5 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1949 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 600 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Selbstporträt in Hemdsärmeln; Selbstbildnis mit Pinseln

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
oben links: L. Meidner
Mitte links: Juli 1915

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 8
Inventar Land Berlin: 8
Weitere Nummern: 3/23

Foto: Anders, Jörg P. / © Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main
Provenienz
bis 31.1.1918 im Besitz des Künstlers Q11 Q13
31.1.1918 bis 28.8.1918 Galerie Paul Cassirer, Berlin Q8 L7 Q11
28.8.1918 Kestner-Gesellschaft Hannover, erworben bei Paul Cassirer L6 Q7
um 1919 Jsrael Ber Neumann, Berlin (Rückseite)
Sammlung Max Walter Gohlke, Berlin
Frau Immich, Berlin
1949 Fritz Hoenniger, Berlin-Bohnsdorf Q1
1949 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Fritz Hoenniger Q1
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Am 12. August 1918 bestätigte Ludwig Meidner dem Direktor der 1916 begründeten Kestner-Gesellschaft in Hannover, Paul Erich Küppers, dass sein drei Jahre zuvor entstandenes Selbstbildnis verkäuflich sei.Q9 Eindeutig ist das Bild identifizierbar, da der Künstler in seinem Brief auf die Abbildung des Werkes im Katalog zu seiner ersten großen Einzelausstellung bei Paul Cassirer in Berlin verweist,L7 sich zugleich beschwerend über zahlreiche Irrtümer und Fehler in der Begleitpublikation wie beispielsweise die fälschliche Auszeichnung von unveräußerlichem Privatbesitz als verkäuflich.

Unterlagen im Züricher Archiv Paul Cassirer bei Walter Feilchenfeldt bekräftigen, dass Küppers sich zwei Wochen später für den Ankauf des Gemäldes entschied. Dieses hatte Paul Cassirer am 31. Januar 1918 mit zwei weiteren Selbstbildnissen aus dem Atelier Meidner übernommen: „‚Selbstportrait in Hemdsärmeln‘ am 28.8.1918 an die Kestner Gesellschaft verkauft“, heißt es auf einer Karteikarte, die zwar eine rote ist, wie sie Cassirer eigentlich für Kommissionsware verwendete, jedoch nicht den üblichen Vermerk „zurück“ trägt, sodass von einem definitiven Verkauf nach Hannover auszugehen ist.Q11

In der Kestner-Gesellschaft wurde das Gemälde noch im selben Jahr auf einer Verkaufsausstellung mit Werken von Ludwig Meidner und César Klein dem hannoverschen Publikum präsentiert.L6 Diese Ausstellung wanderte anschließend weiter nach Hamburg, organisiert wiederum von Paul Cassirer, der von Berlin aus die Fäden zog. „Wir haben von Cassirer noch nicht die Order bekommen, die Gemälde von Meidner an Sie zur Absendung zu bringen“, vertröstete Küppers am 13. September 1918 seinen Hamburger Kollegen Hofrat Theodor Brodersen, der seit 1912 als Geschäftsführer des Hamburger Kunstvereins tätig war.Q8 Das „Selbstporträt in Hemdsärmeln“ jedoch gelangte nie in Hamburg zur Ausstellung – es wurde mit Bleistift aus der Übergabeliste gestrichen.Q10 Den Grund dafür nennt Küppers in einem Brief an Paul Cassirer, in dem er den erfolgreichen Weiterverkauf des Bildes vermeldet.Q7 An wen die Kestner-Gesellschaft jedoch das Bild veräußerte, verschweigt die im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover verwahrte Korrespondenz der Kestner-Gesellschaft.

Einen Hinweis auf einen möglichen Käufer gibt die Rückseite des Gemäldes, auf der das Kürzel „JBN“ prangt, die Initialen des jüdischen Kunsthändlers Jsrael Ber Neumann, der Meidner-Kunst regelmäßig im Verkaufsangebot seines Graphischen Kabinetts in München hatte, jedoch üblicherweise die Werke direkt bei Meidner erstand (freundliche Mitteilung von Erik Riedel, Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum Frankfurt am Main, 13.7.2012). Auch eine große Privatsammlung besaß Neumann, die er sich nachschicken ließ, als er 1923 in die USA übersiedelte, um dort eine erfolgreiche Galerie zu eröffnen, in der er seine deutschen Künstlerfreunde vertrat. Als sein persönliches Eigentum sind mindestens zwei andere Gemälde Meidners bekannt, nicht jedoch jenes „Selbstbildnis“.L9 Also endet hier abermals eine Spur in der Provenienzkette, denn Neumanns schriftlicher Nachlass in den Museum of Modern Art Archives in New York enthält keine Informationen zu dem Gemälde und beschränkt sich generell zu Meidner auf einen Brief sowie eine Postkarte, die von anderen Themen handeln (freundliche Mitteilung von Iris Schmeisser, The Museum of Modern Art, New York, 8.2.2013). Nach Auskunft von Florian Karsch (freundliche Auskunft vom 17.8.2011) befand sich das Bild sehr wahrscheinlich jedoch ebenso wenig in dem Bestand, den Karl Nierendorf 1923 als Nachfolger des Graphischen Kabinetts in die spätere Galerie Neumann-Nierendorf übernahm.

Die museumseigene Dokumentation überliefert als weiteren Vorbesitz für das Gemälde die „Sammlung Gohlke, Berlin“. Max Walter Gohlke war mit vielen Berliner Künstlern befreundet, verkehrte unter anderem mit Max Liebermann, Hans Baluschek und Eugen Spiro. „Sein Alt-Berliner Wohnzimmer über der Werkstatt glich einem kleinen Museum, das seine ganze Welt bedeutete“, war anlässlich seines Todes am 16. Dezember 1971 über ihn in der Zeitung zu lesen.Q18 Gohlke, geboren am 10. Januar 1880 in Berlin und evangelisch getauft, kann als lebenslang passionierter Sammler letztlich zu jedem Zeitpunkt zwischen 1919 und 1948 das Meidner-Bild erworben haben. Das genaue Jahr des Besitzerwechsels ist nicht rekonstruierbar. Seit 1906 war Gohlke als Vergolder, Glaser, Einrahmer, Restaurator und Rahmenhändler selbstständig. Seinen Betrieb in der Potsdamer Straße übernahmen 1933 vier Söhne von seinen insgesamt neun Kindern, die – autorisiert durch die Reichskammer der Bildenden Künste – das Geschäft durch die NS-Zeit führten.Q17 Auch als Kunsthändler betätigte sich Gohlke gelegentlich, notierte doch die Reichskammer 1936 in seiner Personenakte: „Gohlke beabsichtigt, seine Gemälde, die er in letzter Zeit insbesondere durch Gegengeschäfte mit den Künstlern erworben hat, im Rahmen seines Geschäftsbetriebes mit zu veräussern. Seine Tätigkeit ist als gelegentlich und geringfügig zu bezeichnen.“Q17

Möglicherweise befand sich das Meidner-Bild unter dieser Handelsware, an Adolf Jannasch, den Leiter der Galerie des 20. Jahrhunderts, direkt verkaufte es Gohlke jedoch nicht, wenngleich die beiden sich persönlich kannten: In seinem Sammler-Notizbuch notierte Jannasch „Gohlke, Pots d.str.“ als Besitzer von „Baluschek, Berolinensien“.Q12 Auch „Frau Immich, Berlin“, die in der museuminternen Dokumentation ohne Quellenangabe als Provenienzstation nach Gohlke genannt ist und deren Person sich nicht recherchieren ließ, war nicht die Veräußerin an die Galerie. Das Inventarbuch führt vielmehr noch einen weiteren neuen Namen in die Provenienzkette ein:Q1 Fritz Hoenniger (1897–1956) aus Berlin-Bohnsdorf, Maler und Buchdrucker, „Sozialist und alter Gewerkschafter“.Q16 Seit 1929 war der Autodidakt im Osten Berlins tätig, wohnte jedoch seit 1949 in Bohnsdorf und ab 1950 in einem Häuschen in Grünau-Falkenhorst.Q14 Q16 Den Einführungstext des Faltblattes zu einer seiner ersten Ausstellungen in der Berliner Galerie van der Heyde 1947 schrieb Adolf Jannasch.Q4

Recherche: HS | Text: HS

Leinwand Mitte, handschriftlich: JBN; daneben: M
Keilrahmen oben rechts, Etikett mit Nr. [rot, durchgestrichen]: 80
Keilrahmen unten rechts, rot: Neumann
Keilrahmen unten rechts, blau: diverse unleserliche Beschriftungen
Keilrahmen unten Mitte links: Klebereste eines abgelösten Etiketts
Keilrahmen unten links: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
Außenrahmen unten Mitte rechts, Bleistift: Nat Gal; daneben, Bleistift: [unleserlich]

Rückseite
Foto: Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 22.3.1949

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 2

Q3 Liste Platten – Kasten III, Galerie M–R, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, Ordner B: Vereinigte Kunstsammlungen

Q4 Faltblatt zur Ausstellung F. Hoenniger, Öl – Aquarell – Schwarz-Weiß, 23.2.–19.4.1947, Galerie van der Heyde, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, V/Sammlung Künstler: Hoenniger, Fritz

Q5 Liste Platten – Kasten I, Galerie A–K, 25.7.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-040.1 bis -040.3, Nr. 49

Q6 Protokoll der Ankaufskommission, 22.3.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

Q7 Brief Paul Erich Küppers an Paul Cassirer, 27.8.1918, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Dep. 100, Nr. 7

Q8 Brief Paul Erich Küppers an Hofrat Theodor Brodersen, 13.9.1918, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Dep. 100, Nr. 7

Q9 Korrespondenz zwischen Ludwig Meidner und Paul Erich Küppers, August 1918, Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Dep. 100, Nr. 7

Q10 Übergabeliste Meidner-Werke Hannover an Hamburg, [1918], Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Dep. 100, Nr. 7

Q11 Archiv der Galerie Cassirer, Walter Feilchenfeldt, Zürich, freundliche Auskunft von Petra Cordioli, Galerie Feilchenfeldt, Zürich, 25.8.2011

Q12 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q13 Bestandsaufnahme der Meidner-Bilder im Besitz des Künstlers, Tagebuch Ludwig Meidner, Eintrag 1.7.1916, publiziert in: Ludwig Kunz (Hrsg.), Ludwig Meidner. Dichter, Maler und Cafés, Zürich 1973, S. 48 f., hier S. 49

Q14 Druckereiarbeiter, seit 1945 Maler, in: Nacht-Express Berlin, Nr. 49, 28.2.1949

Q15 Verzeichnis Ludwig Meidner, „Gemälde und Zeichnungen im Besitz anderer 1912–1919“, Nr. 1568, Haus der Geschichte Darmstadt, NL Meidner

Q16 Sch-r., Ein Arbeiter-Maler in Grünau, in: Tribüne Berlin, Februar 1950

Q17 Personenakte Walter Gohlke, o. D., Reichskammer der Bildenden Künste, Landesarchiv Berlin, A Rep. 243-04, Nr. 2612

Q18 W. G. O., Viele Maler waren seine Freunde. Walter Gohlke [Zeitungsartikel ohne Quellenangabe und Datierung, (1971)], Firmenchronik Galerie Sagert 1965 bis 1977, Galerienachlass Kunsthandlung Sagert, Landesarchiv Berlin, B Rep. 250-08, Nr. 2

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1953, Nr. 48

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1958, Nr. 122

L3 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 134

L4 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 156

L5 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 138

L6 Ludwig Meidner, César Klein. Gemälde, Graphik. XVIII. Sonderausstellung der Kestner-Gesellschaft Hannover, Ausst.-Kat., Hannover 1918, Nr. 39, mit Abb.

L7 Ludwig Meidner. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Ausst.-Kat. Galerie Paul Cassirer Berlin 1918, Nr. 8

L8 Berliner Bildnisse aus drei Jahrhunderten, Ausst.-Kat. Städtische Galerie München, Berlin 1962, Nr. 60

L9 Ursula Harter und Stephan von Wiese, J. B. Neumann und der „Beckmann Concern“, in: dies. (Hrsg.), Max Beckmann und J. B. Neumann. Der Künstler und sein Händler in Briefen und Dokumenten, 1917–1950, Köln 2011, S. 19–31; zu Meidner und Neumann vgl. auch ebd., S. 86, Anm. 88