Die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin
Ein Provenienzforschungsprojekt


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Max Beckmann (1884–1950)
Meerlandschaft mit Agaven und altem Schloss, 1939

Öl auf Leinwand
60 x 90,5 cm

Standort
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin

1949 erworben durch das Land Berlin
Ankaufspreis: 3.000 DM

Weitere Werkdaten

Abweichende Titel
Cap Martin an der französischen Riviera; Landschaft (Cap Martin); Landschaft mit altem Schloss [Schloß] und Agaven

Bezeichnung Vorderseite / Sichtfläche
unten rechts: Beckmann A 39

Inventarnummern
Staatliche Museen zu Berlin: B 29
Inventar Land Berlin: 29
Weitere Nummern: 6/14

Werkverzeichnis-Nummer
Göpel WV 534; Reifenberg WV 434

Foto: Anders, Jörg P. / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Provenienz
1939 bis 1940 im Besitz des Künstlers, Amsterdam
um 1940/41 Graphisches Kabinett Günther Franke, München, erworben vom Künstler L6
Anfang/Mitte der 1940er-Jahre bis Oktober 1947 Hildegard und Hans von Flotow, Berlin L2 L3 L4 L5 L6
1947 bis 1949 Hildegard von Flotow, Berlin-Zehlendorf, Klopstockstraße 15, per Erbschaft Q4
1949 Kunstkabinett Asta von Friedrichs, Berlin Q9
1949 bis 1968 Galerie des 20. Jahrhunderts, Berlin, erworben von Asta von Friedrichs Q1 Q7 Q10
seit 1968 als Dauerleihgabe des Landes Berlin in der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Im Sommer 1937 hatte Max Beckmann Deutschland verlassen und war nach Amsterdam emigriert. Anschließend lebte er von Ende 1938 bis Juni 1939 in Paris und unternahm in dieser Zeit auch Reisen an die Mittelmeerküste. Seine Pläne, sich dauerhaft in Frankreich niederzulassen, gingen jedoch nicht auf: Die politische Situation zwang ihn Mitte 1939 zur Rückkehr nach Amsterdam. Dort entstanden, wie das Kürzel „A 39“ (für Amsterdam 1939) bei der Signatur verrät, im selben Jahr die beiden Gemälde „Meerlandschaft mit Agaven und altem Schloss“ und „Herbststillleben mit Weintrauben“ (Inv.-Nr. 27), die 1949 für die Galerie des 20. Jahrhunderts erworben wurden. Die Meereslandschaft, die nach Eindrücken aus Südfrankreich entstand, wurde lange fälschlicherweise unter dem Titel „Cap Martin“ geführt – eine Verwechslung mit dem Gemälde, das im Werkverzeichnis Reifenberg unter der Nummer 425 erfasst ist.L7 Q3

Es ist bekannt, dass Beckmann das Glück hatte, auch im Exil nicht vergessen zu werden: Die Kunsthändler Karl Buchholz, Günther Franke und Helmuth Lütjens besuchten ihn ebenso im Amsterdamer Atelier wie die Sammlerin Lilly von Schnitzler und der Kunsthistoriker Erhard Göpel und erwarben Bilder, die sie heimlich nach Deutschland brachten. Auch der Sohn Peter Beckmann schmuggelte zahlreiche Werke seines Vaters nach Deutschland. Göpel berichtet: „Die Konzentration auf das Malen war [im Exil] vollkommen. Deutsche Freunde übernahmen es, für den Verkauf der Bilder in Berlin und München heimlich zu sorgen, so daß im Hause am Rokin nie Not herrschte. Sie setzte erst ein, als im Winter 1944 auf 45 alle Verbindungen abrissen“ (Erhard Göpel, Max Beckmann. Berichte eines Augenzeugen, hrsg. von Barbara Göpel, Frankfurt am Main 1984, S. 24).

„Meerlandschaft mit Agaven“ gehört zu jenen Werken, die der Münchner Kunsthändler Franke in jener Zeit von Beckmann übernehmen konnte.L6 Diese Information geht auf das von Erhard und Barbara Göpel erstellte Werkverzeichnis zurück, das auch deswegen als verlässliche Quelle dient, weil die Göpels mit allen Beckmann-Freunden jener Zeit, allen voran Franke, in persönlichem Kontakt standen. Günther Franke, der seit 1923 J. B. Neumanns Graphisches Kabinett in München geleitet und die Galerie mit dem neuen Namen „Graphisches Kabinett Günther Franke KG“ 1935 übernommen hatte, war ein großer Verehrer von Beckmanns Kunst. 1921 hatte er den Künstler kennengelernt, der ihn, nach überwundener anfänglicher Skepsis, zu einem lebenslangen Vertrauten und Handelspartner machte. Ab 1927, als Neumanns Münchner Kunsthandlung in größere Räumlichkeiten umzog, widmete sich Franke im Auftrag Neumanns in New York mit Nachdruck der Vermarktung Beckmanns, zeitweise auch in Kooperation mit Alfred Flechtheim.L9 Allein in den Jahren 1927 bis 1931 richtete Franke, allein oder mit Partnern, mindestens sieben Beckmann-Ausstellungen aus. In den nationalsozialistischen Jahren beschränkte Franke seinen sichtbaren Ausstellungbetrieb auf gemäßigte Moderne und ältere Kunst, betrieb im Verborgenen jedoch weiter Handel mit der nun als „entartet“ deklarierten Moderne. Beckmann war ebenfalls unter den in Frankes „Hinterzimmer“ erhältlichen Künstlern. Franke hielt – wie Buchholz – auch über die Jahre der NS-Zeit Kontakt mit Beckmann und besuchte ihn 1939 und 1941 (vor und nach seinem Kriegsdienst) im Amsterdamer Exil (vgl. S. 29).L11 Er erwarb seine Werke auf teils legendäre Weise aus verschiedenen Quellen;L12 L9 L10 die Bilder brachte er versteckt in seinem 1944 bezogenen Notdomizil in Seeshaupt am Starnberger See über die Kriegsjahre. Möglicherweise gehörte „Meerlandschaft mit Agaven“ zu jenen Gemälden, die Franke nach einem dreitägigen Besuch bei den Beckmanns in Amsterdam auf der Heimreise per Zug, „zusammengerollt im Gepäcknetz“, mitbrachte (S. 40).L10 In Frankes Domizil in Seeshaupt trafen sich auch Künstler und Kunstfreunde.L10 1946 eröffnete Franke neue Galerieräume in München und veranstaltete noch im selben Jahr die erste Beckmann-Retrospektive nach Kriegsende in Deutschland, die 45.000 Besucher anzog; es folgten zahlreiche weitere Beckmann-Ausstellungen. Viele Werke gingen in seinen Privatbesitz über: 1960 besaß Franke 32 Bilder und 200 graphische Arbeiten von Beckmann, „die größte Beckmann-Sammlung Europas“ (Weltkunst, Jg. 30, Nr. 18, 1.10.1960, S. 12).

Zu den Kunden, die regelmäßig das Hinterzimmer in Günther Frankes Graphischem Kabinett besuchten, gehörten Hans und Hildegard von Flotow. Besonders Hildegard (Hilde) von Flotow war eine häufige und gern gesehene Kundin bei Franke; sie erwarb bei ihm Bilder von Max Beckmann, Karl Schmidt-Rottluff, Emil Nolde und Ernst Wilhelm Nay, mit dem sie – wie Franke auch – darüber hinaus eine persönliche Bekanntschaft pflegte.Q11 Geheimrat Dr. jur. Hans von Flotow (Berlin 1881–1947 Nürnberg) war Jurist und Unternehmer. Bei seiner Familie, derer von Flotow, handelt es sich um ein altes, weit verzweigtes mecklenburgisches Adelsgeschlecht (vgl. Genealogisches Handbuch des Adels, Bd. III/61, Limburg 1975). Nachweislich seit dem 18. Jahrhundert wählte eine stete Anzahl der männlichen von Flotows eine politische oder militärische Karriere. Hans von Flotow war seit 1917 für das preußische Handelsministerium tätig, 1921 bis 1934 für das Bankhaus Hardy & Co. Zeitweise gehörte er zum Vorstand der Stettiner Chamotte-Fabrik AG, die 1932 zur Didier-Werke AG mit Sitz in Berlin und Wiesbaden umstrukturiert wurde und bis heute existiert.Q12 1911 hatte Hans von Flotow Hildegard Schlieder (1884 Berlin–1965 Trautenberg) geheiratet, mit der er fünf Kinder bekam. Sie wohnten in Berlin zunächst in der Herderstraße, dann bis 1942 in der Zehlendorfer Schillerstraße. Zu ihren Nachbarn dort gehörte die Familie des Verlegers Julius Springer, dessen Kinder, darunter der spätere Galerist Rudolf, mit den Kindern der von Flotows befreundet waren. Von 1942/43 bis 1947 lebten die von Flotows in der Schillerstraße 15 im Haus der Familie Springer.Q11 Als Hans von Flotow 1947 starb, zog seine Witwe und Erbin Hilde erst in die Klopstockstraße 15, später in die Argentinische Allee.

Sowohl Hans als auch Hilde waren ausgesprochen kunstsinnig. Ihre Leidenschaft für Kunst, vor allem zeitgenössische, drückte sich vor allem in einer aktiven Sammeltätigkeit aus. Die Kunstsammlung von Hans und Hildegard von Flotow umfasste eine ansehnliche Menge an Werken, unter anderem von Lovis Corinth, Anselm Feuerbach, Hans von Marées, Paul Signac und zahlreichen Vertretern der Moderne, darunter Emil Nolde, Ernst Barlach, Karl Hofer, Max Beckmann, Nay und Schmidt-Rottluff bis hin zu Pablo Picasso (vgl. Werkverzeichnisse und Archivquellen).Q13 Q14 L14 L8 Im Sammler-Notizbuch von Adolf Jannasch, dem Direktor der Galerie des 20. Jahrhunderts, findet sich folgender Eintrag: „v. Flotow, Frau: 2 Signacs, Barlach Singender, Hofer, Guys (Z.).“Q15 Mit einigen Künstlern waren die Sammler auch persönlich befreundet. Während Hilde von Flotow die meisten Kunstkontakte und den Kennerblick besaß, regelte Hans die vertraglichen und finanziellen Seiten der Kunstkäufe. Als Vorstandsmitglied des Vereins Freunde der National-Galerie, den er mitbegründet hatte, war er ebenfalls gut informiert und vernetzt. So konnte er beispielsweise bei Auflösung der Kunstsammlung des Vereins 1939 eine Anzahl von Nolde-Zeichnungen aus diesem Bestand erwerben.Q11 Gegen Kriegsende deponierten die von Flotows ihre Kunst im Keller und ließen von dort nach und nach durch die im Haus verbliebenen Angestellten Konvolute zur Aufbewahrung an ihre Kinder verschicken. Eine Ausnahme war eine Kiste mit fünf Gemälden, die Hilde von Flotow 1942/43 bei ihrem Cousin Jürgen von Flotow im mecklenburgischen Gut Stuer-Vorwerk in der Nähe des Plauer Sees unterbrachte;Q14 diese Bilder kamen abhanden und werden bis heute von der Familie gesucht (vgl. www.lostart.de [letzter Zugang 13.1.2016]). Als Hilde von Flotow nach dem Tod ihres Mannes 1947 in eine kleinere Wohnung zog, verkaufte sie große Teile der bei ihr verbliebenen Kunstsammlung.

In diese Jahre fiel der Erwerb der beiden Beckmann-Gemälde „Herbststillleben“ und „Meerlandschaft mit Agaven“ für die Galerie des 20. Jahrhunderts in West-Berlin. In einem Protokoll der Ankaufskommission schrieb Jannasch 1950: „Beide Bilder stammen aus Berliner Privatbesitz und sind in Berlin noch niemals angeboten worden“.Q8 Hilde von Flotow hatte sie 1949 der Kunsthändlerin Asta von Friedrichs zur Verkaufsvermittlung überlassen. Die direkte Verbindung zeigt sich vor allem in den Zahlungsbelegen: Die Überweisung der Kaufsumme ging an die „Didier-Werke A.G. Bln., Dr. Sommer“.Q17 Q10 Fritz Sommer war der Ehemann von Hans’ und Hildes Tochter Gudula (1912–1989).

Recherche: CT | Text: CT

Leinwand unten rechts: Aufkleber der Galerie des 20. Jahrhunderts
Abdeckplatte: diverse neuere Ausstellungsaufkleber

Q1 Inventarverzeichnis für Kunstwerke Berlins in der Nationalgalerie B 3000/306 [Inventar der Galerie des 20. Jahrhunderts (West)], 2 Bde., 1949–1982, Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, Eintrag vom 8.7.1949

Q2 Protokoll der Übergabe der Bestände der Galerie des 20. Jahrhunderts an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz [Gemälde und Skulpturen aus den Verwaltungs- und Ausstellungsräumen der Galerie], 5.6.1968, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, S. 1

Q3 Brief Erhard Göpel an Adolf Jannasch, 22.2.1962, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, II B/Galerie des 20. Jahrhunderts – Land Berlin 3, Bl. 264

Q4 Korrespondenz zwischen Hildegard von Flotow und Adolf Jannasch, Juli 1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1445 [einschließlich Ankaufsbestätigung vom 9.7.1949 und Zahlungsanweisung vom 3.8.1949]

Q5 Liste Platten – Kasten I, Galerie A–K, 25.7.1957, Archiv Berlinische Galerie, DE BG Gal 02-0204-02-040.1 bis -040.3, Nr. 9

Q6 Protokoll der Ankaufskommission, 9.7.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

Q7 Zahlungsanweisung (Rate) an Frau von Flotow, 12.9.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

Q8 Protokoll der Ankaufskommission, 23.8.1950, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

Q9 Angebot Asta von Friedrichs, 6.7.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1732

Q10 Nachweisaufstellung der Zahlungsempfänger 1949 bis 1951, 27.4.1951, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

Q11 Privatarchiv in Familienbesitz, freundliche Auskünfte aus dem Jahr 2012

Q12 http://www.digitalis.uni-koeln.de/JWG/jwg_102_53-63.pdf [letzter Zugang Dezember 2012]

Q13 Leihgabenbestätigung [Stilleben von Karl Hofer] an Dr. von Flotow, ausgestellt von der Direktion der National-Galerie, u. a. Akten, 27.6.1928, Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, I/NG 719

Q14 Brief Kurt Reutti an Regierungsrat Heidemann [betreffend Rückführung von Kunstwerken aus dem Eigentum von Hildegard von Flotow], 11.8.1948, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, VI HA NL Reutti, Nr. 6, Bl. 67

Q15 Sammler-Notizbuch Adolf Jannasch, Privatbesitz

Q16 Brief Max Beckmann an Marie Louise Buchholz, 12.5.[1946], Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv, IV/NL Buchholz 14

Q17 Protokoll der Sitzung der Ankaufskommission für Kunstwerke des Magistrats von Gross-Berlin am 8.7.1949, Landesarchiv Berlin, B Rep. 014-1446

L1 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1953, Nr. 7

L2 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1958, Nr. 16 („früher Sammlung von Flotow Berlin“)

L3 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1960, Nr. 16 („früher Sammlung von Flotow Berlin“)

L4 Die Galerie des 20. Jahrhunderts. Katalog, hrsg. vom Senator für Volksbildung, Berlin 1963, Nr. 20 („früher Sammlung von Flotow Berlin“)

L5 Verzeichnis der Vereinigten Kunstsammlungen: Nationalgalerie (Preußischer Kulturbesitz) und Galerie des 20. Jahrhunderts (Land Berlin), hrsg. von den Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1968, S. 24 („früher Sammlung von Flotow Berlin“)

L6 Barbara und Erhard Göpel, Max Beckmann. Katalog der Gemälde (Schriften der Max Beckmann Gesellschaft, 3), 2 Bde., Bern 1976, Nr. 534

L7 Benno Reifenberg und Wilhelm Hausenstein, Max Beckmann. Werke und Leben (Der Maler in dieser Zeit), München 1949, Nr. 434

L8 Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft, Berlin 1930, Bd. 1, S. 454

L9 Felix Billeter, Max Beckmann und Günther Franke, Ausst.-Kat. Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Staatsgalerie moderner Kunst, München 2000

L10 Doris Schmidt (Hrsg.), Briefe an Günther Franke. Porträt eines deutschen Kunsthändlers, Köln 1970

L11 Erhard Göpel (Hrsg.), Max Beckmann. Tagebücher 1940–1955, München und Wien 1979

L12 Karl-Heinz Meißner, Der Handel mit Kunst in München, in: Ohne Auftrag. Zur Geschichte des Kunsthandels, Ausst.-Kat. Art Frankfurt Frankfurt am Main, München 1989, S. 85 ff.

L13 Vanessa Voigt, Der Handel mit der Moderne ‚im Hinterstübchen‘. Günther Franke als Kunsthändler des Sammlerpaars Margrit und Bernhard Sprengel, in: Maike Steinkamp und Ute Haug (Hrsg.), Werke und Werte. Über das Handeln und Sammeln von Kunst im Nationalsozialismus, Berlin 2010, S. 127–146

L14 Joachim Stern (Hrsg.), Maecenas, Berlin 1930, S. 16